Max Liebermann (1847–1935)
Holländische Straße mit Fahnen, o. D.
Pastell


Max Liebermann, Mitbegründer der »Berliner Secession«, gehörte um 1900 zu den führenden Köpfen im Kampf um die Erneuerung der Kunst in Deutschland gegen die damals nach wie vor dominierende akademische Salon- und Historienmalerei. Als Sohn aus vermögendem Elternhaus entschied er sich gegen den väterlichen Willen für eine unsichere Künstlerkarriere, bevorzugte in seiner Malerei die Darstellung des schweren, arbeitsreichen Lebens einfacher Menschen und galt daher im kaiserlichen Deutschland lange Zeit als verdächtiger »Sozialdemokrat«.

Tatsächlich verstand sich Liebermann weniger im parteipolitischen, sondern im geistig-humanen Sinn als Kind der demokratischen 1848er-Bewegung. Schon als Schüler war er von Ferdinand Lassalle und seinen Ideen einer auf Freiheit und Gleichheit basierenden Gesellschaft beeindruckt und betonte noch 1889, »dass meine politischen und sozialen Anschauungen die eines Achtundvierzigers geblieben sind«. Wie manche andere Künstler und Intellektuellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, etwa die Kunsthistoriker Théophile Thoré oder Wilhelm Bode, mit dem Liebermann befreundet war, betrachtete er die holländische Malerei als Ausdruck einer freiheitlich-republikanischen Gesinnung. Namentlich Rembrandt und Frans Hals galten ihm in der malerischen Technik als große Vorbilder. An Frans Hals’ offener skizzenhafter Malweise, die er in zahlreichen Kopien immer wieder zu ergründen suchte, hat Liebermann seine eigene malerische Handschrift entwickelt. Diese Orientierung an der holländischen Kunst prägte auch Liebermanns Verhältnis zum Impressionismus. Bezogen auf die Theorien der französischen Malerkollegen, insbesondere der Neoimpressionisten, hielt er zunächst wenig von dem Prinzip der »zerlegten« Farben: »Das ist alles Unsinn. Ich habe es jetzt wieder gesehen, die Natur ist einfach und grau.«

Das Pastellblatt Holländische Straße mit Fahnen weist daher keine impressionistisch-zerlegende Pinselstrichmanier auf. Dennoch ist das Sujet zugunsten der Farbwirkungen zurückgenommen. Blau-, Rot-, Gelb- und Weißtöne leuchten aus dem brauntonigen dunklen Hintergrund einer angedeuteten Architektur hervor. Kontrastierende Farben und ein lockerer Strich bestimmen den Gesamteindruck. Entstanden ist das Blatt bei einem von Liebermanns zahlreichen Hollandaufenthalten in den 1890er-Jahren oder kurz nach der Jahrhundertwende. Zu dieser Zeit begann er, seine Eindrücke vor Ort vermehrt in kleinformatigen farbigen Pastellskizzen aufzuzeichnen. Möglicherweise handelt es sich bei dem Hagener Blatt um einen Straßenzug im Judenviertel von Amsterdam, das er in zahllosen Studien und mehreren Gemälden festgehalten hat.

Zwar bezeugt das Blatt eine Faszination Liebermanns am Farbenspiel fahnengeschmückter Straßen, jedoch hat er das Motiv – abgesehen von einer kleinen Ölskizze von 1894 – nicht wieder aufgegriffen. Während vergleichbare Motive der französischen Impressionisten oder Adolf Menzels durch staatstragende Ereignisse initiiert wurden, hatte der überzeugte Demokrat Liebermann nämlich eine ausgeprägte Abneigung gegenüber staatlicher Autorität und pompösen Inszenierungen.



Max Liebermann, Holländische Straße mit Fahnen, o. D, Osthaus Museum Hagen, Fotografie: Achim Kukulies, Düsseldorf