Christian Rohlfs, Gasse in Ascona, um 1930, Osthaus Museum Hagen, Fotografie: Achim Kukulies, Düsseldorf


Christian Rohlfs (1849–1938)
Gasse in Ascona, um 1930
Tempera auf Leinwand


Das Spätwerk Gasse in Ascona zeugt von Rohlfs’ Streben nach Immaterialität, indem er Gegenstand und Farbmaterie durch verschiedene Bearbeitungsverfahren aufbrach und die kompakte Form auflöste. Der reife Künstler erreichte in den 1920er- und 1930er-Jahren eine hohe Souveränität im Umgang mit der Fülle seiner Gestaltungsmittel. Die zahlreichen Bilder aus Ascona am Lago Maggiore, wo Rohlfs ab 1927 jährlich die warme Jahreszeit genoss, demonstrieren eine erstaunliche Bandbreite. Ausgangpunkt des Gestaltungsprozesses ist die aus unmittelbarem sinnlichen Eindruck erwachsene Empfindung, ausgehend von dem Motiv selbst, unter wechselnden Wetterbedingungen, zu verschiedenen Tageszeiten und – als neue Seh-Erfahrung – eingetaucht in das helle Licht des Südens. Das Spektrum der Darstellung reicht von einer radikalen Reduzierung auf wenige, die Form nur noch andeutende Linien bis hin zur dramatischen Verdichtung mit schnell und energisch ausgeführten Strichlagen und Verwischungen. Die Welt des Gegenständlichen verließ Rohlfs niemals, doch die Reduktion und Auflösung der Formen erreicht nicht selten einen hohen Abstraktionsgrad.

Eine spannungsreiche Mehrdeutigkeit zwischen Gegenstandsbezug und selbstständiger Form prägt die Gasse in Ascona. Rhythmisch gesetzte Pinselschraffuren in stumpfer, sparsam aufgetragener Temperafarbe strukturieren Häuser, Gasse und Himmel. Die weißgetünchte Architektur verwandelt sich in eine leuchtende Farb-Licht-Komposition von zarter Transparenz, in ein Farbereignis, das keine reale Stofflichkeit mehr kommuniziert. Fast entsteht der Eindruck hinterleuchteter Farbigkeit. Überzogen von einem lichten Schleier aus Farbgewebe, sind die Häuser einer diesseitigen materiellen Welt entrückt. Ihre Mauern sind aus Licht gebaut. Die Konturen sind aufgebrochen, das intensive Himmelsblau flutet hinein und durchdringt die Helligkeit des Mauerwerks. Das Substanzielle verliert sich in dem lebendig pulsierenden Farblicht, das nur mehr eine Vorstellung der Dingwelt, eine Annäherung an ihre atmosphärische Anschauung erzeugt.

Im Nachlass von Christian Rohlfs befinden sich mehrere Fotoalben, die belegen, dass der Künstler sich des Hilfsmittels der Fotografie bediente, um während des Malprozesses seine Erinnerung an das Gesehene, das er vor Ort in seinem Skizzenbuch festgehalten hatte, zu unterstützen. Die Landschaft und die Architektur des Tessins wurden fotografisch fixiert, ebenso Blumen und Blüten, das beliebte Hauptmotiv seines malerischen Spätwerks. Im Malprozess entfernte sich Rohlfs von der objektiven Gegenstandswelt, um zum Wesen der Dinge vorzudringen. Seine Bildwelt zeugt von einem Nachempfinden, einer tiefen Durchdringung des Diesseitigen. Die Verwandlung des konkret Wahrnehmbaren in Farblichträume verleiht den Objekten eine entrückte und doch unmittelbar erfahrbare sinnliche Präsenz.

»Seine Malerei ist Musik der Farben«, schrieb Karl Ernst Osthaus im Jahr 1905 über den am Folkwang-Museum ansässigen Rohlfs. Diese hier bereits klangvoll beschriebene Ausdruckskraft im frühen Werk des Malers – von Osthaus mit einer treffenden musikalischen Metapher charakterisiert – sollte sich dreißig Jahre später, im letzten Jahrzehnt des Lebens und Schaffens von Christian Rohlfs, vollenden.